Fachtag „Lernen aus Akten“: Der Prozess der „Wiedergutmachung“ anhand der Entschädigungsakten des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Bayern, 15.11.2024
Am 15.11.2024 luden der Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Bayern e.V. und der Lehrstuhl Didaktik der Geschichte der FAU Erlangen-Nürnberg zum gemeinsamen Fachtag unterschiedliche externe Akteure in das Kollegienhaus der FAU ein. Dies waren einerseits Personen und Institutionen wie die staatlichen Archive Bayerns, des Bundesarchivs, der universitären Medizinethik, des Memorium Nürnberger Prozesse, des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma Heidelberg, des Polizeipräsidiums München und der Gedenkstätte Flossenbürg, die von Beginn an das Projekt mit ihrer Expertise bereichert hatten oder an den Inhalten und dem Fortgang des Projekts interessiert waren.
Andererseits waren dies Fachreferenten aus den Rechts- und Geschichtswissenschaften, die das Publikum durch Vorträge in das Thema einführten. Besonders wertvoll war an jenem Tag die Anwesenheit von Egon Siebert, welcher selbst Überlebender des Völkermordes ist und in der Bürgerrechtsarbeit seit Anfang der 1980er Jahre ehrenamtlich Opfer bei Antragstellungen für Entschädigungen vor deutschen Behörden und Gerichten unterstützte. Prof. Dr. Bühl-Gramer, Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte der FAU, moderierte den Fachtag. So waren an jenem Tag insgesamt etwa 30 Personen anwesend.
Zu Beginn betonte Erich Schneeberger, erster Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma, in seinem Grußwort, dass die Beratung und der rechtliche Beistand in der finanziellen Entschädigung seit mehreren Jahrzehnten zur DNA des Verbandes gehöre. Ungerechtigkeiten und Versäumnisse, die es in der Vergangenheit in der Entschädigung von Sinti und Roma gegeben habe, würden endlich durch das Projekt aufgearbeitet werden, was ein notwendiger erster Schritt zu einer nachholenden Gerechtigkeit sei.
Marion Neumann sprach danach als Vertreterin des Zuwendungsgebers der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Mit Blick auf den anhaltenden Rechtsruck in Deutschland, welcher erst jüngst bei den letzten Landtagswahlen wieder deutlich wurde, seien solche Projekte wie dieses, welches für Berufsgruppen in der außerschulischen Bildungsarbeit für Erwachsene didaktische Materialien zu NS-Unrecht erstellt, besonders wichtig.
Prof. Dr. Bühl-Gramer hob in Ihrem Grußwort hervor, dass das Projekt unmittelbar an die Forderungen des überfraktionellen Antrages des Bundestages (ausgenommen der AfD) zum Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus vom 13. Dezember 2023 anknüpfe. So heißt es bei Punkt 12 des Antrags, dass „die Sicherung, Erschließung und Zugänglichmachung der relevanten Aktenbestände, insbesondere Quellen aus der Zeit des Nationalsozialismus, aus dem Bereich der Wiedergutmachung, der juristischen Aufarbeitung sowie Personalakten der Täter gefördert werden müsse“ und unter Punkt 19 sei es geboten, „die kritische Auseinandersetzung mit Antiziganismus in den Sicherheitsbehörden und der Justiz fortzusetzen, auch in Hinblick auf überkommene Traditionen des eigenen Behördenapparates […].“
Philipp Graebke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht mit ICLU, legte in seinem Vortrag mit dem Titel „Das Entschädigungsrecht der BRD vor dem Hintergrund der Aufarbeitung des NS-Unrechts im Allgemeinen“ einen Schwerpunkt auf rechtspositivistische und antiziganistische Urteile des Bundesgerichtshofes in den 1950er Jahren. Darin stellte er die Tradierung der in der Nachkriegszeit behördlicherseits verbreiteten Unterstellung, Sinti und Roma seien „zu Recht“ bis Frühjahr 1943 wegen ihrer vermeintlichen „Asozialität“ und „Kriminalität“ im Nationalsozialismus verfolgt worden, vor. Dies habe massiven Einfluss auf die Entschädigungspraxis der Opfergruppe gehabt. Bemerkenswert war die Analyse von Philipp Graebke, dass die jeweiligen für diese Urteile verantwortlichen Richter im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus kaum bis gar nicht vorbelastet waren.
Joey Rauschenberger, Doktorand an der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg, knüpfte mit seinem Vortragstitel „Entschädigung für Sinti und Roma zwischen Inklusion und Exklusion“ nahtlos an die vorherigen Diskussionsbeiträge an, die vor allem rechtshistorische Fragen fokussierten. Rauschenberger skizzierte die allgemein eng gesetzten Grenzziehungen des Entschädigungsrechts der jungen Bundesrepublik, welche Sinti und Roma doppelt hart trafen, da sie enorme Anstrengungen der Beweisführung aufbringen mussten, „rassisch“ verfolgt worden zu sein. Er sagte auch, dass Sinti und Roma nicht prinzipiell von der Entschädigung ausgeschlossen waren und die Revision des BGH-Urteils von 1963 und dem Recht auf eine zweite Antragstellung ab 1965 durch das BEG-Schlußgesetz, wodurch die „rassische“ Verfolgung der Opfergruppe von 1938 bis 1943 zumindest rechtlich nun als „mitursächlich“ beurteilt wurde, positive Auswirkungen ergaben.
Nach der Mittagspause führten Markus Metz, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Landesverband Deutscher Sinti und Roma Bayern, Egon Siebert und Leonard Stöcklein, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte in den praktischen Teil des Tages ein. Egon Siebert sagte, dass er wegen der vielen Ablehnungen bereits Ende der 1980er Jahre Angehörige der Minderheit unterstützt habe, weitere Male Entschädigungen zu erstreiten. Markus Metz erklärte, dass er seit 1997, seit der Landesverband finanziell vom bayerischen Staat unterstützt wird, in der Entschädigungsarbeit tätig geworden sei und Rechtsbeistand für hunderte Opfer geleistet habe. So sei auch ihm dieses Projekt ein Herzensanliegen, welches schließlich beim zweiten Anlauf durch die Stiftung EVZ bewilligt wurde.
Leonard Stöcklein skizzierte daraufhin den Zwischenstand der Erkenntnisse aus der einjährigen Projektarbeit mit den Entschädigungsakten des Landesverbandes. Die Digitalisierung sei erfolgreich abgeschlossen worden und anhand der wissenschaftlichen Auswertung der Akten ließen sich allgemein vier Phasen der Entschädigung von 1945 bis in die jüngste Zeit unterscheiden, welche auch in den zu erstellenden Bildungsmaterialien Niederschlag finden werden. Neben der Phasenbildung trug Leonard Stöcklein weitere allgemeine Beobachtungen vor, die das Projekt als Erkenntnisse herausgearbeitet habe: Die Aussagen der Überlebenden und der eidesstattlichen Erklärungen von durch sie benannten Zeugen wurden von Behörden und Gerichten in ihrer Glaubwürdigkeit geringer eingeschätzt gegenüber amtlichen Dokumenten, Stellungnahmen der Polizei oder anderen staatlichen Institutionen. Auffällig viele Verfahren wurden mit einem außergerichtlichen Vergleich und Einmalzahlungen für die Opfer beendet. Anknüpfend an die Vormittagsvorträge sind die auszugsweise vorgestellten Akten Quellen dafür, dass bis 1963 deutsche Sinti und Roma in rechtspositivistischer Denkweise kollektiv dem Verdacht ausgesetzt waren, aufgrund angeblicher „Asozialität und Kriminalität“ selbst verantwortlich für die Verfolgung gewesen zu sein. Diese Denkweise überdauerte zum Teil noch bis in die 1980er Jahre. Andererseits lässt sich in manchen Akten ein gewisser „Lernprozess“ der Entschädigungsbehörde in Zweitverfahren seit den 1980er Jahren nachvollziehen, wodurch einige Ungerechtigkeiten der 1950er/60er Jahre korrigiert wurden. Besonders konfliktreich in der Auseinandersetzung zwischen Opfern und Behörden war die Frage der Entschädigung des Schulausschlusses, körperlicher und seelischer Leiden, der Freiheitsberaubung sowie von Leidensverschlimmerungen und Witwenrenten.
Nach der kurzen Einführung wurden nun in einem gemischten Format aus einführendem Vortrag und Workshop drei konkrete Entschädigungsakten im Plenum besprochen. Alle drei Beiträge skizzierten zunächst ausführlich die nationalsozialistische Verfolgung der jeweiligen Opfer, welche sich anhand der Akten und weiterer Forschungen aus Sekundärliteratur und Archivrecherchen rekonstruieren lassen. Julia Jacumet und Hannah Frohmader, studentische Hilfskräfte des Projekts am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte, legten sodann bei der Frage der Entschädigung anhand einer Akte einen Fokus auf die individuelle Handlungsmacht eines Sachbearbeiters in der Entschädigungsbehörde und auf die Rolle der Polizei, welche im Nationalsozialismus Täter waren und in Gerichtsverfahren bis in die 1960er Jahre bei Entschädigungsfragen als Zeugen geladen worden waren. Markus Metz widmete sich anhand eines Beispielfalls der allgemein bis heute nicht revidierten rechtlichen Schlechterstellung von NS-Opfern gegenüber Kriegsversehrten, Opfern alliierter Bombenangriffe, Wehrmachts- und SS-Soldaten im Zusammenhang mit der Versorgung von Witwen von NS-Opfern.
Leonard Stöcklein fokussierte zum Abschluss medizinethische Fragen der Verknüpfung einer Entschädigung an den Beweis einer „anthropologischen rassischen Verfolgung“, der verfolgungsbedingten Leiden sowie der fehlenden Arbeitsfähigkeit der Opfer, welche wesentliche Bedingungen für eine finanzielle Auszahlung waren und besondere Hürden darstellten. Anhand konkreter Auszüge aus den jeweiligen Akten und gezielten vorgegebenen Fragestellungen wurde das Plenum aktiv an in die jeweiligen Konflikt- und Streitfragen der Entschädigung eingeführt und ein Diskussions- sowie Lernprozess aktiviert.
Frau Bühl-Gramer bedankte sich zum Abschluss des Tages für das hohe Interesse an der Veranstaltung und wünschte dem Projekt in der engen Zusammenarbeit mit dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma Bayern einen ertragreichen Fortgang im Jahr 2025.